Ortsgruppe

über 100 Jahre NaturFreunde

Die NaturFreunde sind ein Spross der internationalen Arbeiterbewegung. Die Entstehung der NaturFreunde war mit den politischen und sozialen Freiheitskämpfen der Arbeiterklasse verbundenen.
Die Arbeiterfamilien sollten die Stätten harter Ausbeutung und die beengten Wohn- und Schlafstätten in den industrialisierten Städten wenigstens für kurze Zeit verlassen dürfen, um die Schönheiten der Natur erleben zu können. „Lasst weit zurück die Stätten eurer Fron!“
Das jedenfalls war die Hoffnung des Lehrers Georg Schmiedel und des Arbeiters Alois Rohrauer, die Stumpfheit und Gleichgültigkeit bei vielen Arbeitern durchbrechen wollten, um in ihnen neue Lebensgeister zu erwecken. Wandern und Bergsteigen, so meinte Schmiedel, könnten „den Arbeitern von der Geißel der Schänke und des Spießertums befreien“. Er ließ in der Wiener Arbeiterzeitung am 22. März 1895 folgende Anzeige erscheinen: „Naturfreunde werden zur Gründung einer touristischen Gruppe eingeladen, ihre Adresse unter Natur 2080 einzusenden.“ Er erhielt 30 Zuschriften. Die NaturFreunde waren entstanden.

1905 sprang der Funke über nach Deutschland. In München gründeten sich nach einem Vortrag Alois Rohrauers die ersten deutschen Naturfreundegruppen.
1905 war das Jahr des großen Streiks der Bergarbeiter an der Ruhr, das Jahr der ersten Russischen Revolution, der Aufstand der Herero im Deutschen Kolonialreich war gerade in einem blutigen Völkermord niedergeschlagen. Das Kaiserreich von Wilhelms Gnaden war eine Klassengesellschaft mit scharfen Gegensätzen. Neun Jahre später lenkte Wilhelm sein schon aus Blut und Eisen in Versailles geschmiedetes Reich in einen fürchterlichen Weltkrieg, der für das deutsche Volk erneut in Versailles in die Katastrophe führen sollte.
Die erstarkende Arbeiterbewegung schuf sich in vielfältigen Organisationen eine Gegenkultur zur Kultur der grenzenlosen Ausbeutung und imperialen Barbarei. Mit dem Leitspruch „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ wurde der Sozialdemokrat August Bebel zum Gegenkaiser der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Die Arbeiterbewegung verstand sich als umfassende Kulturbewegung zur Emanzipation der Ausgebeuteten und Unterdrückten, als Teil der Aufklärung mit dem Ziel einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren das Programm des kulturellen Fortschritts. Hier fußt das Selbstverständnis der NaturFreunde als Kulturverband. Und erst in zweiter oder dritter Linie sind damit kulturelle Aktivitäten wie Mandolinenorchester oder Volkstanz gemeint.

Was soll dieser Rückblick in lang vergangene Zeiten?

Wer auf einer Wanderung unsicher über den weiteren Verlauf des Weges wird, vielleicht sogar droht die Orientierung zu verlieren, wird im Zweifel zurückblicken, um zu sehen, woher er gekommen ist. Vielleicht steigt er dabei auf eine kleine Erhebung, um einen besseren Überblick zu gewinnen.

100 Jahre Naturfreunde in Deutschland zu feiern, das ist eine solche Erhebung, um neue Orientierung zu gewinnen.

Wir NaturFreunde wandern gerne, wollen Land und Leute kennen lernen, bieten mit unseren Häusern Rast und Einkehr, kraxeln in den Bergen oder treiben Wintersport. Das alles verbinden wir mit unserem Einsatz für den Umwelt- und Naturschutz und soziale Gerechtigkeit. Unser Engagement für den Klimaschutz ist nicht abstrakt und losgelöst von diesen Aktivitäten. Dort wo wir Freizeit treiben, wollen wir beitragen zum besseren Schutz des Klimas und zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen.
Aber die NaturFreunde sind kein einfacher Wanderverband, wie es ihn in jeder Mittelgebirgsregion in Deutschland gibt. Und wenn wir heute stolz auf unsere Naturfreundehäuser blicken, dann sind das nicht nur schöne Wanderhütten oder schmucke Ferienheime. Aus eigener Kraft erbaut sind sie als Freiräume für eine politische Organisation entstanden. Wenn wir Naturfreunde uns mit „Berg frei!“ grüßen, dann meinen wir freies Wegerecht für alle und Freiheit der Gedanken.

Vergessen wir auch nicht: Es waren unsere Genossinnen und Genossen, die nach dem Verbot unserer Organisation 1933 zum Beispiel im sächsischen Naturfreundehaus Königstein an der Elbe von der SA gequält und erschlagen wurden.
Am anderen Ufer sitzt heute die NPD, Nazis der übelsten Sorte, mit 21% im Stadtparlament.

Aber Königstein ist auch der Ort der Wiederbegründung der NaturFreunde in den neuen Ländern, vor 15 Jahren gründeten wir dort am 18.03.1990 die NaturFreunde DDR. Wer einmal in Bitterfeld oder Leuna war, versteht, warum die NaturFreunde in der DDR bis 1990 nicht zugelassen waren.

Die Gründer der NaturFreunde wussten: Geschichte ist eine Geschichte von Gegensätzen, eine Geschichte von Klassenkämpfen. Auch heute ist der Widerspruch von Kapital und Arbeit nicht aufgehoben. Arbeit schafft Kapital. Aber Kapital schafft keine Arbeitsplätze.
Wenn wir die Entwicklung im Weltmaßstab betrachten, wird man konstatieren müssen, dass Marx mit seiner Verelendungstheorie – leider – in vielen Punkten Recht behalten hat.
Was nicht im kapitalistischen Verwertungsinteresse liegt, wird randständig und ausgeschieden. Das gilt mit wenigen Ausnahmen für Afrika als größten Kontinent der Erde. Die globalisierte Wirtschaft ist verknüpft mit globalisierter Armut.

Es war die Stärke der europäischen Arbeiterbewegung mit ihren Parteien, Gewerkschaften, sozialen und kulturellen Organisationen wie auch der Arbeiterwohlfahrt und uns NaturFreunden, die auch die einfachen Leute ein Jahrhundert des sozialen Fortschritts, der stärkeren Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum erleben ließ. Immer erkämpft, mühsam verteidigt, mit fürchterlichen Rückschlägen gewiss, aber in den letzten Jahrzehnten mit großen Erfolgen verbunden, die die meisten das eigene Herkommen leicht vergessen ließen.
Heute gibt es viele, die das sozialdemokratische Jahrhundert für beendet erklärt haben. Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, gesetzlicher Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung, umfassender Kündigungsschutz – das klingt heute fast wie ein Lied aus guter alter Zeit. Wenn wir nicht aufpassen, uns nicht engagieren, verlieren wir tatsächlich in wenigen Jahren Errungenschaften, für die Generationen gestritten haben.

Der Kapitalismus geht unter den Bedingungen der globalen Herrschaft des Finanzkapitals und der wissschaftlich-technischen Revolution mit steigenden Raten von Arbeitslosigkeit, unsicherer Beschäftigung und Ausgrenzung von gering Qualifizierten einher.
Soziale Sicherungssysteme, die auf der Illusion von Vollbeschäftigung und stetigem Wachstum beruhen, geraten in eine Schieflage. Die Investitionen von heute sind nicht die Arbeitsplätze von morgen, sie zielen in der jetzigen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Erhöhung der Produktivität und die Einsparung menschlicher Arbeit.
Trotz aller Reformbemühungen im Bildungssystem haben soziale Herkunft, die Größe des Portemonnaies der Eltern, entscheidenden Einfluss auf die Bildungschancen unser Kinder behalten.

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden bei einer weiteren Privatisierung der öffentlichen Daseinvorsorge, der Bildung, dem Rückgang der so genannten Staatquote nichts zu gewinnen haben. Bedenken wir bei allem wohlfeilen Gerede von Privatisierung und Liberalisierung: Kleine Leute können sich einen armen Staat nicht leisten.

Die aktuell ergriffenen Maßnahmen des Staates zur Senkung der Lohnnebenkosten gehen dann in die falsche Richtung, wenn die Beschäftigten im Ergebnis weniger statt mehr in der Lohntüte haben, die Schere zwischen Brutto und Netto größer wird.

Allen, die da hoffen, dass es mit dem nächsten Aufschwung wieder besser werde, sei gesagt: Wachstum ist kein Allheilmittel und die Erde ist kein Perpetuum Mobile. In nicht ganz 200 Jahren Industrialisierung haben wir ein in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Naturverbrauch erlebt. Die großen Volkswirtschaften in Asien schicken sich an, die amerikanische und europäische Entwicklung in wenigen Jahrzehnten nachzuholen. Im Dienste des Profits, aber auch einer breiten Wohlstandsgesellschaft, die Wohlstand vornehmlich als Güterkonsum definiert, haben wir begonnen, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zu untergraben. Umweltschutz und die Einleitung einer nachhaltigen Entwicklung sind das Gebot der Stunde.
Qualitatives Wachstum in Bildung, Innovation und Umweltschutz sind notwendig.
Und hier liegt auch Deutschlands Chance auf Schaffung neuer Arbeitsplätze. Ausbau von Betreuungseinrichtungen für alle Kinder bis 2010, Ganztagsschulen flächendeckend bis 2010, energetische Sanierung des kompletten Wohnungsbestandes, Stadterneuerung und Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme, das wäre eine Agenda 2010 nach unserem Geschmack, verbunden mit hunderttausenden neuer und qualifizierter Arbeitsplätze.
Denn: Arbeit und Umwelt gehören zusammen.

Wir NaturFreunde fangen schon mal an, in den Ortsgruppen und Häusern ergreifen wir ganz praktische Maßnahmen für Energieeffizienz, weniger Autoverkehr und damit mehr Klimaschutz.
Wir NaturFreunde sind offen für alle, denen die Freiheit des Andersdenkenden Bedingung der eigenen Freiheit ist.
Lust auf Natur, Sport und Bewegung und Raum für neue Gedanken bieten wir allen, die in ihrer Freizeit Ausgleich und Inspiration suchen.
Für viele Senioren sind die NaturFreunde zur zweiten Heimat geworden ebenso wie die NaturFreundejugend für Kinder und Jugendliche.
Kommt in unsere Naturfreundehäuser, singt mit uns alte und neue Lieder.

Wir NaturFreunde haben etwas zu feiern, denn wir wollen die Flamme weiter tragen.

Berg frei!


Willi Jacobi,